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AutorenbildRoger Spiess

Gefühle zeigen


Ich weiss nicht, wie es genau zustande kam. Aber als kleiner Junge lernte ich, dass ich stark sein muss. Unsicherheiten hat ein klar denkender Mensch, auch wenns ein Junge ist, keine. Entweder oder ist die Wahl. Dazwischen stecken bleiben ist schwach. Und Schwäche ist kein Merkmal eines Kriegers. Der Sieg ist Merkmal des erfolgreichen Kriegers.

Später, als viele Dinge in meinem Leben nicht mehr funktionierten, lernte ich meine Gefühle doch noch kennen. Ich erlebte meine Gefühle und mit der Zeit lernte ich auch ihre Sprache kennen, erfuhr, was sie mir sagten.

Um meine Gefühle auch zeigen zu können, musste ich bereit zum sterben sein. Denn Gefühle zeigen ist Schwäche. Und ein Krieger der Schwäche zeigt läuft Gefahr besiegt zu werden. Besiegt zu werden ist die einzige von allen möglichen Optionen, die nicht geht. Gar nicht.

Um meine Gefühle zu zeigen, musste ich mich also ans sterben gewöhnen. Jedes Mal. An jedem vom Universum gegebenen Tag. Damit ich nach dem Sterben das Land endlich entdecken konnte, wo Gefühle zeigen Verbindung schafft. Zu den Menschen und zu mir. Das ist schön.

Ganz klar bin ich darin jedoch noch nicht. Denn:

Der Junge in mir lernt immer noch den Umgang mit den Gefühlen, die er nie zulassen durfte. Bei ihm brechen sie aus wie ein Sturm. Der Sturm eines hungernden Menschenjungen der seine ihm entzogene Nahrung laut einfordert. Der Sturm des alleingelassenen Jungen, der Verbindungslosigkeit einklagt. Der Junge, der Liebe, Aufmerksamkeit und Trost so gebraucht hätte, und nicht bekam. Dieser Junge entwickelte eine tiefe Bedürftigkeit die nur auszuhalten ist, in dem es alle Schuld der Aussenwelt und den Menschen in ihrem Benehmen ihm gegenüber zuschiebt. Der Junge zieht immer noch seine eigene Schwäche aus den Gefühlen. Er sieht sich immer noch als Opfer.

Und in mir gibt es den Mann, der seine Gefühle, so wie sie sind, endlich erkennt. Er erkennt sie, nimmt sie wahr und steht voll zu ihnen. Ich weiss dadurch, dass ich nicht meine Gefühle bin, aber ich zum Glück Gefühle habe. Mein Mann in mir steht zu seinen Gefühlen. Der Mann in mir zieht aus den Gefühlen Kraft, und würde auf diese Quelle nie mehr verzichten. Er teilt seine Gefühle, behält sie gleichzeitig bei sich selbst.

Dieser Mann in mir hat den Jungen in mir an die Hand genommen. Er begleitet ihn auf seinem Weg gross zu werden. Das wird eine Zeitlang dauern. Die Wege führten schon über steinige Wege und steile Bergpfade, und es liegt noch ein Stück vor uns. Und wenn es sein muss, wird der Mann in mir den Jungen ein Stück tragen. Und er wird da sein, auch wenn der Junge zwischendurch in die volle Bedürftigkeit versinkt und alle andern dafür die Schuld gibt.

Egal.

Der Mann in mir nimmt, sobald der Junge wieder ruhig ist, seinen Platz wieder ein. Und wir gehen weiter.

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